1     Einleitung

 

Kein geringer Prozentsatz, nämlich ca. 10-20 % der Neugeborenen ( vgl. Hähnel / Ehricht, /42/, S.293 ), werden mit einer meist erblich erworbenen Abnormität eines oder beider Hüftgelenke ( Hüftdysplasie ) geboren. Je nach Art und Schwere dieser präarthrotischen Vorschädigung ist die Belastbarkeit des betroffenen Hüftgelenkes ( Articulatio coxae ) entsprechend eingeschränkt. In vielen Fällen ist eine bestehende, meist nur leichte präarthrotische Deformität dem Patienten überhaupt nicht bekannt und bleibt bei Beschwerdefreiheit oft unerkannt. Die Entwicklung einer Coxarthrose verläuft bei einer Hüftdysplasie, mit Ausnahme besonders schwerer Fälle, nämlich Luxationen bzw. Subluxationen, stumm und wird erst im fortgeschrittenen Stadium durch Schmerzhaftigkeit und Funktionseinschränkung spürbar. In den letzten Jahren wurden in der Früherkennung und Behandlung von Hüftdysplasien im Säuglings- und Kleinkindalter große Fortschritte erzielt. Vor allem den wissenschaftlichen Arbeiten des österreichischen Orthopäden Reinhard Graf ist die Einführung eines obligatorischen Hüftscreenings im Rahmen der U3 während der 4. bis 5. Lebenswoche, oder bei vorliegenden Risikomerkmalen bereits im Resultat der U2 am Ende der ersten Lebenswoche seit dem 01.01.1996 in der Bundesrepublik Deutschland zu verdanken. Unerkannte entwicklungsbedingte Vorschädigungen der Hüftgelenke sind dennoch nicht einhundertprozentig auszuschließen. Somit bleibt der Sportlehrer im Schulsport oder der Übungsleiter im Freizeitsport prinzipiell mit einer möglichen Funktionseinschränkung des Hüftgelenkes konfrontiert, zumal auch eine erworbene präarthrotische Deformität ( z.B. durch Koxitis, traumatische Luxation ) diese bedingen kann. Prizipiell sind die didaktisch-methodischen Forderungen zur Primärprävention in der täglichen Arbeit der Sportlehrkräfte zu beachten. Bei Schülern mit bekannter präarthrotischer Vorschädigung des Hüftgelenks wird die Frage der möglichen sportlichen Belastung und deren richtiger Dosierung für viele Sportlehrer und Übungsleiter zum Problem. Grund dafür sind einerseits "großzügig" fomulierte ärztliche Atteste, die keine genauen Aussagen über die Belastbarkeit und zulässige sportliche Übungen enthalten und andererseits echtes Wissensdefizit der Sportlehrer und Übungsleiter über die Möglichkeit einer sportlichen Belastung und deren Gestaltung bei anlagebedingter Hüftdysplasie. In unserer heutigen Zeit, in der der Bewegungsmangel eine entscheidende Ursache für die sog. Zivilisationskrankheiten darstellt, muß es Ziel sein, jeden Schüler entsprechend seiner Leistungsvoraussetzungen am Sportunterricht teilnehmen zu lassen. " Wollen wir uns dem Ziel verschreiben, Schäden am Bewegungsapparat vorzubeugen, müssen wir alle Möglichkeiten ausschöpfen, auch diejenigen Kinder, die mit orthopädischen Erkrankungen behaftet sind, möglichst weitgehend in den Sportunterricht an den Schulen zu integrieren. " ( Weseloh, /123/,S.19 ) Eine wohlüberlegte und richtig dosierte physiologische Belastung ist auch für das präarthrotisch vorgeschädigte Hüftgelenk sinnvoll und wichtig, um einerseits arthrotische Prozesse zu bremsen und einzugrenzen sowie andererseits die Lebensqualität der betroffenen Kinder und Jugendlichen zu verbessern. Die vorliegende Arbeit soll dazu beitragen, die wissenschaftlich fundierten Erkenntnisse der Medizin über die Hüftdysplasie und die präventiven Möglichkeiten des Sports für betroffene Patienten didaktisch-methodisch für die Praxis des Schul- und Freizeitsports aufzuarbeiten und daraus schlußfolgernd handhabbare Richtlinien für Sportlehrer und Übungsleiter zu erstellen. Die Hüftdysplasie, wie auch andere Formen präarthrotischer Deformitäten, ist aus medizinischer Sicht ausreichend bearbeitet. Es besteht also kein wissenschaftliches Defizit zum medizinischen Gegenstand. Die Tansformation dieser Erkenntnisse in die Praxis, insbesondere für die Bereiche des Präventions-, z.T. Rehabilitations-, vor allem aber des Schul- und Freizeitsports, lassen aber einen relativen Mangel erkennen. Ein wesentliches Problem ist die Formulierung nutzbarer Einordnungskriterien für die sportliche Belastbarkeit und die daraus resultierenden Festlegungen methodischer Belastungsparameter. In dieser Arbeit wird ein Modell vorgeschlagen, welches durch die Aufstellung von fünf sog. Belastbarkeitsgruppen zur Einschätzung der sportlichen Belastbarkeit eines dysplastischen Hüftgelenks entsprechende Belastungsparameter ableiten läßt und damit Grenzen und Möglichkeiten sportlicher Aktivität von Kindern und Jugendlichen mit Hüftdysplasie aufzeigt. Dieses soll als Leitfaden für die Transformation von Diagnose und Bewertung durch den Facharzt zur schadensadäquaten Umsetzung im Schul- und Freizeitsport durch die Sportlehrkraft bzw. den Fachübungsleiter dienen. Das Modell ist so angelegt, daß nach der fachärztlichen Einordnung des Schülers in eine Belastbarkeitsgruppe, entsprechend der Art und Schwere der präarthrotischen Deformität, die notwendige Differenzierung bei Übungsauswahl und Belastungsgestaltung durch die betreuende Sportlehrkraft relativ leicht durchführbar sowie kontollierbar ist und damit für den Praktiker mit seinen oft begrenzten materiellen Bedingungen realisierbar wird. Ein kontinuierlicher Informationsaustausch zwischen behandelndem Facharzt und Sportlehrkraft zur Sicherung, Kontrolle und Aktualisierung schadensadäquater Belastungsparameter wird im Interesse der betroffenen Kinder und Jugendlichen angestrebt.

Auf der Grundlage von internationalen wissenschaftlichen Veröffentlichungen zur Ätiologie, zu pathologischen Erscheinungsbildern, zur Prävention und Reha-bilitation durch Sport und sportliche Belastung bei präarthrotischen Vorschädigungen des Bewegungsapparates, hauptsächlich des Hüftgelenkes ( Hüftdysplasie ), möchte ich in dieser Arbeit versuchen, eine sportpraxisorientierte, didaktisch-methodische Aufarbeitung zu Belastungs-möglichkeiten und resultierenden Belastungsdosierungen bei Kindern und Jugendlichen mit Hüftdysplasie im Schul- und Freizeitsport zu erstellen. Die klassische Rehabilitation sowie Tauglichkeitseinschätzungen für den Leistungssport werden sicherlich kaum tiefgreifend bearbeitet, da diese Felder nicht vorwiegend den Bereich des Schul- und Freizeitsports berühren. Aufgrund der schulsportlichen Relevanz des Arbeitsthemas werde ich meine Ausführungen hauptsächlich auf das Kindes- und Jugendalter ausrichten.