Für die folgenden Betrachtungen habe ich mich entschieden, den kalendarischen
Entwicklungszeitraum vom Beginn des Frühen Schulkindalters
, also etwa dem 6. Lebensjahr, bis zum Jungen Erwachsenenalter (
ca 25. Lebensjahr, Abschluß des Längenwachstums ) zu betrachten.
Dieser Entwicklungs- und Reifezeitraum beinhaltet zwei markante Wachstumsphasen,
den Ersten und Zweiten Gestaltwandel, sowie die qualitativ
wesentlichsten morphologischen und funktionellen Reifungsprozesse bis zur
Maturität. Er ist deshalb für die Einschätzung und evtl.
Verbesserung der Belastbarkeit, im folgenden hauptsächlich des Hüftgelenks,
von absolut entscheidender Bedeutung. " Das Leben mit dem Sport ist in
diesem Alter eine wesentliche Chance für die Gesundheit, Belastbarkeit
und Leistungs-
fähigkeit. " ( Fröhner, G., /34/, S. 8 ) Eine richtige
Belastungseinschätzung und die daraus abgeleitete Belastungsgestaltung
fördert im Sinne eines sog. funktionellen Reizes eine adäquate
Entwicklung des gesamten Gelenkkomplexes. Bei Überlastungen können
gesunde Strukturen zerstört werden und als resultierende Sportschäden
die Gelenkbelastbarkeit sowie Funktionalität bedeutend einschränken.
Die Einschätzung der Belastbarkeit von vorgeschädigten, sog.
präarthrotischen, Gelenksituationen ist deshalb besonders wichtig,
um eine vorzeitige Auslösung von arthrotischen Prozessen zu vermeiden
und ein individuelles Höchstmaß an Funktionalität und damit
Mobilität zu sichern ( z.B. Muskelaufbau und Beweglichkeitsschulung
) und möglichst lange zu erhalten. Wie so oft in der Literatur geschrieben,
sind Kinder und Jugendliche keine Kleinausgaben der Erwachsenen
! Reifestand und Reifedynamik, vor allem die phasenhafte Entwicklung mit
funktionellen Diskrepanzen zwischen Organen und Systemen, machen den kindlichen
und jugendlichen Organismus besonders belastungssensibel. Ein endo-exogenes
multifaktorielles Bedingungsgefüge determiniert die Individualentwicklung
( Ontogenese ) eines jeden Menschen. Daraus folgt, daß Leistungsfähigkeit
und damit Belastbarkeit streng individuelle und limitierende Funktionsparameter
sind. Adaptationsprozesse unterliegen im Kindes- und Jugendalter anderen
quantitativen und qualitativen Gesetzmäßigkeiten als dies bei
Erwachsenen der Fall ist. " Günstige Effekte werden nicht in der Zeit
der stürmischen morphologischen Entwicklung mit vielfältigen
Systemlabilitäten erreicht, sondern in Phasen der zunehmenden funktionellen
und morphologischen Stabilität ( weitgehender Entwicklungsabschluß
)."
( Fröhner, G., /34/, S. 9 ) Es ist selbstverständlich,
daß die sportliche Belastbarkeit eines dysplastischen Hüftgelenks
von vornherein eingeschränkt ist, erst recht, wenn sich der reifende
Organismus in sog. sensiblen ( oft auch
sensitiven ) Phasen befindet. Deshalb bedarf es einer gesonderten, individuellen
und gründlichen Belastbarkeitseinschätzung durch den Orthopäden,
um den o.g. Ansprüchen Rechnung zu tragen.
4.1 Allgemeine Kriterien für die Einschätzung
der sportlichen
Belastbarkeit des Bewegungsapparates
aus sportmedizinischer
und sportmethodischer Sicht
4.1.1 Zum Begriff " Belastbarkeit "
Zunächst verschiedene Definitionen des Begriffs. Bringmann
und Strauzenberg führen aus: " Unter 'sportlicher Belastbarkeit'
versteht man die individuell verschieden ausgeprägte Fähigkeit
des Organismus, eine alters- und geschlechtsbezogene sportliche Beanspruchung
ohne gesundheitliche Störungen zu verarbeiten. Sie wird durch folgende
Faktoren maßgeblich beeinflußt:
- Stabilität der Gesundheit,
- allgemeine physische Leistungsfähigkeit,
- geschlechtsspezifische Aspekte,
- altersspezifische Aspekte,
- psychische Stabilität und Motivation,
- Trainingsalter,
- soziale Faktoren. " ( Bringmann, W. / Strauzenberg, E., /13/, S. 917 )
Matthiaß definiert Belastbarkeit als "... die Fähigkeit eines Körpers oder eines Organes, einer Beanspruchung ohne Schädigung zu widerstehen. " ( Matthiaß, H.H., /76/, S. 733 ). Er nennt drei fundamentale Faktoren, nämlich Materialeigenschaften, funktionelle Anpassung und spezifische Organfunktion. In Ausführungen zu Kriterien der sportlichen Belastbarkeit im Kindes- und Jugendalter schreibt Koinzer: " Die sportliche Belastbarkeit charakterisiert also einen psychophysischen Zustand, der die Verarbeitung hoher sportlicher Belastungen im leistungsstabilisierenden bzw. leistungsfördernden Sinne ermöglicht. " ( Koinzer, K., /62/, S. 927 ). Im folgenden leitet er acht Kriterien zum Wesen der sportlichen Belastbarkeit ab, Disziplinbezogenheit, individuelle Ausprägung, Abhängigkeit von der aktuellen psychophysischen Leistungsfähigkeit, ausgeprägte Entwicklungsdynamik, geschlechtsspezifische Ausprägung, gesundheitliche Beeinflußbarkeit, ernährungsbedingte Beeinflußbarkeit und genetische Abhängigkeit.
Zusammenfassend läßt sich sagen, daß Belastbarkeit, im besonderen sportliche Belastbarkeit, eine komplexe multifaktorielle Fähigkeit des menschlichen Organismus darstellt, die sowohl von endogenen Bedingungen als auch von exogenen Faktoren bestimmt wird. Der Terminus steht für individuelle Belastungsverarbeitung, Belastungstoleranz und Grundlage von Adaptationen. Sportliche Belastbarkeit unterliegt demnach einer kontinuierlichen Aktualgenese und wird durch die aktuelle sportliche Leistungsfähigkeit beeinflußt. Koinzer schreibt dazu: " Innerhalb dieser Wechselbeziehung Leistungsfähigkeit-Belastbarkeit ist die sportliche Belastbarkeit so groß, wie der Leistungsfähigkeit des schwächsten Gliedes dieser Leistungskette entspricht. " ( Koinzer, K., /62/, S. 929 ) Sportliche Belastbarkeit ist individuell und aktuell limitiert, ist genetisch determiniert und durch Adaptationen von Organen und biologischen Systemen veränderbar. Sie ist immer in ihrer Ganzheitlichkeit zu betrachten und zu bewerten ! Bei der Einschätzung der individuellen sportlichen Belastbarkeit haben sich drei Kategorien bewährt, nämlich die allgemein-organismische Belastbarkeit, die Belastbarkeit leistungsbestimmender Systeme und die mechanische Belastbarkeit. ( vgl. Fröhner, G., /34/, S. 14 ) Letztere wird für die folgenden Ausführungen zur sportlichen Belastbarkeit des Bewegungsapparates besondere Bedeutsamkeit haben.
4.1.2 Biologische Grundlagen der
sportlichen Belastbarkeit des Bewegungsapparates
im Kindes-
und Jugendalter
4.1.2.1 Der passive und aktive Bewegungsapparat
Der passive Bewegungsapparat:
Die Eigenschaften des Binde- und Stützgewebes sind für
die sportliche Belastbarkeit von besonderer Bedeutung. Durch physiologische
Reifungs- und Entwicklungsprozesse ist es permanent quantitativen und qualitativen
Eigenschaftsveränderungen unterzogen. Die Strukturen der Knochen,
vor allem der großen Röhrenknochen, sind Zug-, Druck- und Torsionskräften
ausgesetzt. Der kindliche Knochen weist, im Vergleich zu dem des Erwachsenen,
eine wesentlich höhere Elastizität auf. Deshalb sind die sog.
Grünholz-Frakturen im Kindesalter ein häufig beobachtetes
und typisches Phänomen. Gegenüber Zug- und Druckkräften
sind die Knochenstrukturen des Kindes besonders anfällig. Die Entwicklung
und Reifung des Skeletts wird durch das zeitlich differente Auftreten der
Knochenkerne ( enchondrale Ossifikation ) reguliert. Während der Phasen
des beschleunigten Längenwachstums sind vor allem Epiphysenfugen und
Apophysen besonders belastungssensibel. Bei Überlastungen dieser Strukturen
kann es zu bekannten schwerwiegenden Schädigungen kommen, wie z.B.
Morbus Schlatter ( Aufweichung der Schienbeinrauhigkeit ) oder Epiphyseolytis
capitis femoris ( Lösung und Abgleiten der Schenkelkopfepiphyse
).
Mit Ausreifung der Knochenstrukturen nimmt deren Mineralgehalt zu und es
kommt zur Ausprägung eines leistungsfähigen Trajektorenverbandes.
Mit dem Schluß der Epiphysenfugen ( Verschmelzung der Wachstumsknorpel-
mit der Knochenstruktur ) ist das Längenwachstum abgeschlossen. Der
hyaline Knorpel besitzt, auch aufgrund seiner postmitodischen Regenerationsfähigkeit,
im Kindes- und Jugendalter gute Belastungseigenschaften. Dennoch sollte
während der Reifungs- und Wachstumsprozesse Funktionalität und
moderate Belastungsgestaltung die Planung und Durchführung sportlicher
Tätigkeiten unbedingt bestimmen, um Knorpelstrukturen der Gelenkflächen
nicht vorzeitig, evtl. sogar irreversibel, zu zerstören. Seine mechanischen
Eigenschaften, wie Elastizität, Druckresorbtion und Kraftprojektion
sowie Gleitfähigkeit, sind für die Gelenkfunktion außerordentlich
wichtig. Sehnen, Bänder und Kapselapparate weisen gegenüber
den Knochen eine altersspezifisch hohe Belastungstoleranz, vor allem Elastizität
und Zugfestigkeit, auf. Rupturen sind meist Folge systematischer und langandauernder
Über- und Fehlbelastungen.
Der aktive Bewegungsapparat:
Es ist bekannt, daß die Muskelfaserkonstellation ( Verhältnis von ST- zu FT-Fasern ) höchstwahrscheinlich genetisch determiniert ist. Die volle Entfaltung der individuell möglichen Muskelleistungsfähigkeit ( Kontraktions- und Entspannungsfähigkeit ) ist erst nach der Pubeszenz, durch die geschlechtsspezifische hormonelle Umstellung und dadurch vermehrte Ausschüttung der Sexualhormone, möglich. Das Kind verfügt über ausgezeichnete Ausdauerfähigkeiten, ist aber für anaerobe Prozesse physiologisch schlecht gerüstet. Eine Kraftschulung vor der Pubeszenz muß demnach vor allem ausdauerdominant sein. Üben mit Zusatzlasten sowie " Überkopfarbeit " mit Hanteln ist zu unterlassen. Maximalkraftschulung und Schnelligkeitsschulung erfolgt über Belastung der neuromuskulären Steuerung. Das Üben mit der eigenen Körperlast stellt das Hauptmittel zur Kraftverbesserung in diesem Altersbereich dar. Das Nervensystem verfügt im Frühen und Späten Schulkindalter über eine außerordentlich gute Trainierbarkeit. ( vgl. z.B. Hirtz, Meinel / Schnabel ) Koordinationstraining sollte deshalb besondere Beachtung finden. Es stellt eine wesentliche Grundlage für gesundes Üben und Trainieren dar, da Bewegungsabläufe optimiert und damit Kraftspitzen ( z.B. Abfedern eines Niedersprunges ) auf den passiven Bewegungsapparat minimiert werden können.
4.1.2.2 Die Systemhaftigkeit des Bewegungsapparates
Der Stütz- und Bewegungsapparat ist die Gesamtheit funktioneller
Teilsysteme. Knochen und Knorpel, Gelenke mit Kapseln und Bändern,
Sehnen als Kraftübertragungssystem von Muskeln auf die beweglichen
Skeletteile, die Muskulatur als Motor der Bewegung und natürlich die
nervale Vernetzung als Steuer- und Regelsystem stellen diese Komponenten
dar. Wie bereits oben beschrieben, limitiert die Leistungsfähigkeit
eines jeden Subsystems die Gesamtleistungsfähigkeit und damit die
Gesamtbelastbarkeit. Die Reifung und Entwicklung der funktionellen Teilsysteme
verläuft nicht gleichzeitig und kontinuierlich. Sie vollzieht sich
zeitlich versetzt und sprunghaft. Die adäquate Entwicklung der inneren
Organe und -systeme hinkt z.B. dem puberalen Längenwachstum nach,
das Nervensystem ist bereits im Schulkindalter im Gegensatz zur Körpergröße
fast vollständig gereift, die Muskulatur kann den Proportionsveränderungen
des puberalen Wachstumsschubes nicht zeitgleich folgen. Wachstums- und
Reifungsphasen sind meist Zeiträume eingeschränkter Belastbarkeit.
Sie sind deshalb besonders zu beachten und stellen im Kindes- und Jugendalter
eine wesentliche Orientierungsgröße für die Belastungsgestaltung
und -steuerung dar. Es wird deutlich, daß das Gesamtsystem Bewegungsapparat
im betrachteten Zeitraum, aufgrund von Reifungs- und Entwicklungsphasen
seiner Subsysteme, besonders belastungssensibel ist. Erst mit Abschluß
der Adoleszenz können höhere und höchste Trainingsbelastungen
toleriert werden. Unterschiedliche Adaptations- wie auch Regenerationszeiträume
der Subsysteme machen die Komplexität dieses funktionellen Systems
des Bewegungsapparates zusätzlich deutlich. Mit der abschließenden
Ausdifferenzierung des Systems nimmt natürlich die Toleranz gegenüber
nicht adäquaten Reizen zu. Allerdings ist der Anteil von bradytrophen
Gewebsstrukturen
( z.B. Sehnen, Bänder, Knorpel ) relativ hoch und ist deshalb bei
Schädigungen nur eingeschränkt regenerationsfähig. Bei der
Bewertung und Steuerung sportlicher Belastung ist allgemein die Regel
von Roux als Handlungsanleitung heranzuziehen.
Regel von Roux:
1) Zu geringe Reize beeinträchtigen die Entwicklung.
2) Mittlere Reize sind der Entwicklung dienlich.
3) Überhöhte Reize bergen Gefahren für die Entwicklung und Reifung der Strukturen.
( vgl. Fröhner, G., /34/, S. 39 )
Daraus resultiert, daß eine richtige Belastungs- und damit Beanspruchungswahl
positive Adaptationen bewirken kann und wir deshalb von der Notwendigkeit
der allgemeinen funktionellen Beanspruchung des menschlichen Organismus
ausgehen.
4.1.2.3 Unterschiedliche Belastbarkeit der Strukturen
des Bewegungsapparates in Folge
geschlechtsspezifischer Ausdifferenzierung während der Pubeszenz und
Adoleszenz
Aufgrund der beginnenden geschlechtsspezifischen hormonellen Umstrukturierung
mit Beginn der ersten puberalen Phase ( weiblich 11./12. bis 13. Lebensjahr,
männlich 12./13. bis 15. Lebensjahr ) und der daraus folgenden vollständigen
geschlechtlichen Ausdifferenzierung des menschlichen Organismus in der
Adoleszenz
( zweite puberale Phase ) resultieren schließlich differente
Belastungstoleranzen des weiblichen und männlichen Bewegungsapparates.
Durch den Reifungs- und Entwicklungsvorsprung des weiblichen Geschlechts
weist dieses in Folge einer zeitigeren Ausreifung des Nervensystems im
koordinativ-motorischen Bereich meist eine leichte Überlegenheit gegenüber
dem männlichen Geschlecht auf. Die größere Beweglichkeit
der Frau ist physiologisch neben anatomischen Besonderheiten auf die weiblichen
Geschlechtshormone, vor allem Östron, Progesteron und Relaxin
zurückzuführen, da diese die Dehnbarkeit der Bänder erhöhen
( Weichmacherfunktion ). Die geringere Körperhöhe der Frau wird
hypothetisch ebenfalls auf den kalendarisch zeitigeren Eintritt der Geschlechtsreife
und den damit durch die Östrogene hervorgerufenen Längenwachstumsabschluß
begründet. Der Mann ist durch die eiweißanabole Wirkung der
Androgene, vor allem des Testosterons, muskulär, sowohl
in Bezug auf die Kontraktilitätsleistung, als auch bezüglich
der Muskelmasse ( Frau ca. 35 % / Mann ca. 40 % des Gesamtkörpergewichts
), bevorteilt. Die Kraftentwicklung differiert im Mittel um ca. ein Drittel.
Testosteron bewirkt ebenfalls den Längenwachstumsabschluß.
Im Gegensatz zu den Östrogenen fördert Testosteron
die Bildung von Knochenmatrix ( Calciumeinlagerung / Mineralisierung )
und die Knochenfestigkeit. Demnach ist die Knochenstruktur des männlichen
Organismus wesentlich belastbarer. Deshalb sind Frauen bei Störungen
bzw. Veränderungen im geschlechtsspezifischen Hormonhaushalt eher
osteoporosegefährdet. Es ist also festzustellen, daß der weibliche
Bewegungsapparat geschlechtsbedingt eine geringere Belastungs-toleranz,
vor allem gegenüber großen statischen Belastungen, aufweist.
Bis zum Beginn der geschlechtsspezifischen Differenzierung kann man im
Schulkindalter, von typischen Erkrankungen des Bewegungsapparates abgesehen,
von etwa gleicher Belastbarkeit beider Geschlechter ausgehen.
4.1.3 Die mechanische Belastbarkeit
als Zentralgröße der Einschätzung
der
sportlichen Belastbarkeit des Bewegungsapparates
Wir wissen, daß die Strukturen des menschlichen Stütz- und
Bewegungsapparates drei Grundarten mechanischer Belastung und deren
Kombinationen ausgesetzt sind, nämlich Druck, Zug und Torsion.
Bei der Einschätzung der mechanischen Belastbarkeit sind vor allem
drei mechanische Grunddimensionen zu beachten. Erstens die räumliche
( geometrische ) Dimension, zweitens die zeitliche und drittens
die dynamische ( Kraft- ) Dimension. Hinzu kommen die individuellen,
genetisch bedingten und evtl. erworbenen belastungseinschränkenden
Materialeigenschaften. Um eine treffende Einschätzung der sportlichen
Belastbarkeit geben zu können, sind die spezifischen Charakteristika
einer Sportart zu analysieren ( vgl. Disziplinbezogenheit der Belastbarkeit
). Bei dieser Bilanzierung des disziplinspezifischen Anforderungsprofils
geht es vor allem um die Bewertung des sog. Geometrischen Charakters
( achsengerechte oder nicht achsengerechte Belastung ), des sog. Zeitlichen
Charakters
( Dauer-, intermittierende oder Impulsbelastungen ) sowie um bevorzugte
Grundarten ( Druck, Zug, Rotation ) der sportlichen Belastung ( vgl. Fröhner,
G., /34/, S.64 ). Besonders gefährlich sind passive Druckimpulse
mit direkter ungebremster Einwirkung auf Knochen und Knorpel, passive,
schlagartige Zugimpulse auf die Strukturen von Muskeln, Sehnen, Bändern
und deren Ursprünge und Ansätze sowie nichtachsengerechte Belastungen,
bei denen Kraftmomente und Scherkräfte von teilweise enormer Größe
entstehen. Man faßt diese Phänomene unter dem Begriff Mikrotraumatisierung
zusammen. Prinzipiell stellen Bewegungen mit extremen Torsionsbelastungen
und maximalen Kontraktionsgeschwindigkeiten, sowie sog. reaktive
Belastungsformen ein erhöhtes Verletzungs- und Schadensrisiko dar,
da mit lokalisierten, punktförmigen Maximalbeanspruchungen der Strukturen
des Bewegungsapparates zu rechnen ist, die die Toleranzgrenze überschreiten.
Bei sehr schnellen Bewegungen ( meist reaktiver Charakter ) ist es selbst
bei sehr gut trainierter Muskulatur aufgrund der Latenzzeit zwischen Reiz
und Reaktion nicht möglich, die erste Kraftspitze " abzufedern ".
Es wird dabei unweigerlich der passive Bewegungsapparat ungebremsten Impulsen
ausgesetzt. Schlußfolgernd ergeben sich folgende praxisrelevante
Konsequenzen:
- Schulung von geschmeidigen und " geführten " Bewegungen, Techniktraining vor Leistungstraining, Achtung auf aktive und " saubere " Bewegungsausführung zur Reduzierung von passiven Impulsbelastungen;
- unbedingte Durchführung einer guten funktionellen Erwärmung mit allgemeiner und spezieller Vorbereitung zur Entfaltung der vollen physiologischen Leistungsfähigkeit und Optimierung der Muskelreflexzeit;
- Nutzung von funktionellen und sicheren Sportgeräten, bei erhöhtem Risiko tragen von Schutzkleidung und Schutzverbänden ( aktuell: Tape-Verbände );
- Wahl adäquater Übungen, Übungsmittel und -intensitäten entsprechend der individuellen Leistungsfähigkeit und dem Könnensstand;
- Beachtung des Reife- und Entwicklungsstandes im Kinder- und Jugendsport ( biologisches Alter );
- Übungen mit hohem Risiko nur so oft wie unbedingt nötig,
Übungen zur Entlastung und Stabilisierung
( allgemeine Athletik ) so oft wie möglich;
- Planung und Durchführung von Ausgleichstraining auch im Freizeitsport, Vermeidung und Beseitigung neuromuskulärer Dysbalancen, Einheit von Muskelkräftigung und Dehnung;
- Beachte anatomische Belastbarkeitseinschränkungen ! ( z.B. präarthrotische Deformitäten ).
4.1.4 Besonderheiten der sportlichen
Belastbarkeit des Bewegungsapparates
im Kindes-
und Jugendalter
Die absolut entscheidende Größe bei der Beurteilung der
sportlichen Belastbarkeit ist die Feststellung des biologischen Alters
( auch Skelettreifungsalter ), das im Mittel ca. 2 Jahre vom kalendarischen
Alter abweichen kann. Man spricht dann entweder von Akzeleration
( Beschleunigung - sog. Frühentwicklung ) und Retardation
( Verzögerung - sog. Spätentwicklung ). Eine genaue fachärztliche
Bestimmung des biologischen Alters erfolgt meist mittels Nomogrammen mit
Perzentilen. Es wird in der Literatur immer wieder darauf hingewiesen,
daß die Differenz durchaus noch viel größer sein kann.
Weineck schreibt von Entwicklungsunterschieden innerhalb einer heterogenen
Gruppe gleichen kalendarischen Alters in der Schule von bis zu 5 Jahren
und im Training sogar bis zu 7 Jahren. ( vgl. Weineck, J., /117/,
S. 55 ) Allein dieser Fakt zeigt die Notwendigkeit von Belastungsdifferenzierung.
Fröhner verweist auf vier konstitutionelle Wachstumsvarianten:
1) konstitutionelle Verlangsamung von Wachstum, Knochenreife und Pubertät;
2) konstitutioneller Minderwuchs / Kleinwuchs ohne Beeinträchtigung der Knochenreife und der Pubertät;
3) konstitutionelle Beschleunigung von Wachstum, Knochenreife und Pubertät;
4) konstitutioneller Großwuchs ohne Beeinträchtigung der Knochenreife und der Pubertät
( vgl. Fröhner, G., /34/, S. 32 )
" Das biologische Alter ist die wesentlichste Steuergröße für Belastungs- und Leistungsanforderungen im Kindes- und Jugendalter. " ( Fröhner, G., /34/, S. 92 ) Wir wissen, daß im Frühen und Späten Schulkindalter das Nervensystem optimale Adaptationsbedingungen aufweist und deshalb die Schulung koordinativer Fähigkeiten im motorischen Lernprozeß im Vordergrund steht. Mit dem Schuleintritt ist das Kind noch nicht in der Lage, Sprünge von relativ großer Höhe optimal abzufedern. Mit zunehmender koordinativer Ausbildung verbessert sich diese Fähigkeit durch optimalere intra- und intermuskuläre Koordination, welche das Fundament für Vervollkommnung von Kraftleistungen vor der Pubeszenz darstellt. Erst mit der hormonellen, geschlechtsspezifischen Differenzierung in der ersten puberalen Phase ( Pubeszenz ) kommt es zu zunehmend anaboler Muskelentwicklung. Demzufolge ist ein spezifisches Muskelaufbautraining erst mit Ende der Pubeszenz sinnvoll und physiologisch möglich. Wenn es um die motorische Ontogenese geht, spricht man häufig von sog. sensiblen Phasen ( auch sensitive Phasen ) und beschreibt damit Entwicklungsabschnitte, die für die Reifung und Entwicklung eines oder mehrerer biologischer Systeme von besonderer Bedeutung sind. Wie bereits oben beschrieben repräsentieren das Frühe und Späte Schulkindalter besonders günstige Bedingungen zur koordinativen Schulung bei relativ körperbaulicher Stabilität. Körperhöhe und Körpermasse entwickeln sich weitgehend kontinuierlich und proportional. Man spricht im Späten Schulkindalter vom sog. " Geschicklichkeitsalter " oder vom " Ersten goldenen Lernalter " und beschreibt das Phänomen des " Lernens auf Anhieb ". Eine zweite, vor allem für die mechanische Belastbarkeit des Bewegungsapparates von enormer Bedeutung, wichtige sensible Phase, stellt der Zweite Gestaltwandel oder auch der puberale Wachstumsschub dar. " In der 1. Hälfte der Pubertät sind vor allem die Epi- und Apophysen der unteren Extremitäten gefährdet, in der 2. Hälfte vor allem die Wirbelkörper, während die oberen Extremitäten über die gesamte Pubertät gefährdet sind. " ( Fröhner, G., /34/, S. 60 ) Aus diesem Grunde ist ein Training mit großen Zusatzlasten und eine " Über-Kopf-Arbeit " mit Hanteln erst ab der Adoleszenz orthopädisch vertretbar. Gerade im Kindes- und Jugendalter können Belastbarkeitsstörungen, also Abweichungen von der physiologischen und anatomischen Norm, gehäuft auftreten. Hier ist zu unterscheiden zwischen
- angeborenen, konstitutionellen und physiologischen Belastbarkeitsstörungen ( z.B. congenitale präarthrotische Deformitäten );
- erworbenen, nicht belastungsbedingten Belastbarkeitsstörungen ( z.B. deformverheilte Frakturen );
- erworbenen belastungsbedingten Störungen der Belastbarkeit ( z.B. Morbus Schlatter ).
( vgl. Fröhner, G., /34/, S. 67 )
Belastbarkeitsstörungen bedingen ein Mißverhältnis zwischen Belastung und tatsächlicher Belastbarkeit und verkörpern ein Risiko für die gesundheitliche Unversehrtheit bis hin zu bleibenden Sportschäden. Treten belastungsbedingte Störungen an Stütz- und Bewegungsapparat auf, so sind sie Folge einer kontinuierlichen Fehlbelastung. Primäre Fehlbelastungsfolgen haben ihre Ursachen in einer physiologisch bedingten, also angeborenen, verminderten Belastbarkeit. Sie kommen durch entwicklungsphysiologische Einflüsse zum Tragen. Eine durchschnittliche Belastung wirkt bei dem betroffenen Personenkreis bereits als Störgröße. Zur Ursachengruppe gehören unter anderem die sog. Bindegewebsschwäche, erhebliche allgemeine Hypermobilitäten, vor allem der Wirbelsäule, Haltungsvarianten des Rumpfes, anatomisch bedingte Dysbalancen und evtl. Deformitäten, wie z.B. die Hüftdysplasie. Sekundäre Fehlbelastungsfolgen können durch endogene und / oder exogene Faktoren ausgelöst werden. Endokrine Störungen, Ernährungsmängel und zu wenig Freiluftaufenthalte gehören zu den ätiologischen Faktoren dieser Fehlbelastungsform, die sich vor allem in unphysiologischer Entwicklungsverzögerung von Körperhöhe und Körpermasse, sowie unzureichender Mineralisierung der Knochen zeigt. Ausschließlich zu hohe oder falsche Belastungen, wie ständig einseitige oder hochintensive physische wie psychische Trainingsanforderungen, führen zu tertiären Fehlbelastungsfolgen. Um Schäden am Bewegungsapparat durch zu hohe mechanische Reize zu vermeiden, muß von der allgemeinen Gültigkeit des trainingsmethodischen Prinzips der kontinuierlichen Belastungssteigerung für den Kinder- und Jugendsport während spezieller Entwicklungsphasen abgesehen werden. Differenzierte Belastungsgestaltung kann in bestimmten Entwicklungsphasen auch individuelle, zeitlich begrenzte Belastungsreduzierung erfordern. Mit Beginn der Adoleszenz verfügen alle physiologischen Systeme über eine relativ gut ausgeprägte Belastbarkeit. Somit besitzt der Organismus gute Voraussetzungen für eine Phase der besten Trainierbarkeit. Abschließend sei darauf hingewiesen, daß Kinder und Jugendliche aufgrund eines höheren Grundumsatzes und entwicklungs-physiologischer Gesetzmäßigkeiten prinzipiell längere Regenerationszeiten als Erwachsene benötigen. Auf individuelle Besonderheiten ist bei der Einschätzung der sportlichen Belastbarkeit zu achten und hinzuweisen.
4.1.5 Allgemeine Grundsätze
der Diagnostik der sportlichen Belastbarkeit
des
Bewegungsapparates im Kindes- und Jugendalter
Jede fachärztliche Untersuchung beginnt naturgemäß
mit der Beurteilung des allgemeinen Gesundheitszustandes und der Aufnahme
einer sorgfältigen Anamnese ( vgl. auch 3.3. ). Ziele der Untersuchung
zur Einschätzung der sportlichen Belastbarkeit sind, krankhafte Störungen
und deren Vorstufen zu erkennen und zu behandeln, sowie Risikofaktoren
für die allgemeine und spezielle Belastbarkeit zu diagnostizieren.
Im Kindes- und Jugendalter folgt eine Einschätzung von Wachstums-,
Reife- und Entwicklungsstand, um allgemeine Belastungsparameter festzulegen.
Bei Auffälligkeiten, d.h. klaren Abweichungen von der Norm, werden
Spezialuntersuchungen zur Bestimmung der biologischen Reife notwendig.
Bei Kindern und Jugendlichen, die einem regelmäßigen, evtl.
sogar leistungssportlichen Training nachgehen, sollte eine Prüfung
der Intaktheit und Funktionsfähigkeit disziplinspezifisch besonders
beanspruchter funktioneller Systeme und Regionen des Stütz- und Bewegungsapparates
erfolgen. Eine Beurteilung des biologischen Reifestandes und des Wachstums
ist meist schon mit relativ einfachen Mitteln möglich. So geben Differenzen
von Körperhöhe und Körpermasse schon recht
zuverlässige Aussagen über die aktuelle individuelle Entwicklungsdynamik
( Wachstumsgeschwindigkeit ). Diese Parameter erlauben die Einordnung
in sog. Wachstumsdiagramme repräsentativer Querschnittsuntersuchungen
( z.B. nach Prader / Largo, vgl. Fröhner, G., /34/,
S. 104 ). Weitere Klarheit schafft die Beurteilung des klinischen Reifestatus
nach Tanner. Zur Leistungsentwicklungs- und Auswahldiagnostik
im Leistungssport werden seit Jahren erfolgreich sportanthropometrische
Verfahren angewendet. Die Anthropometrie hat den wesentlichen Vorteil,
daß sie auf invasive Diagnostikmethoden verzichten kann. Für
die Einschätzung des biologischen Entwicklungsstandes ist aus anthropometrischer
Sicht auf den Körperbau-Entwicklungsindex ( KEI )nach
Wutscherk ( 1973 ) hinzuweisen. In besonderen Fällen wird eine
Bestimmung des Knochenalters notwendig. In der präpuberalen
Phase beträgt die durchschnittliche Wachstumsgeschwindigkeit
ca. 4 bis 6 cm pro Jahr, während sie sich im Verlauf des puberalen
Wachstumsschubes auf ca. 8 bis 12 cm pro Jahr verdoppelt. Deshalb ist es
notwendig, bei Kindern und Jugendlichen, im Vergleich zu Erwachsenen häufigere
Kontrollen der aktuellen Leistungsfähigkeit und damit der aktuellen
Belastbarkeit des Stütz- und Bewegungsapparates durchzuführen.
Nach dem Mark-Jansen-Gesetz verhält sich die Empfindlichkeit
des Binde- und Stützgewebes umgekehrt proportional zur Wachstumsgeschwindigkeit
( vgl. Weineck, J., /117/, S. 59 ). Demzufolge sind die Strukturen
des Stütz- und Bewegungsapparates während des puberalen Längenwachstums
besonders störanfällig und ihre Belastungstoleranz ist herabgesetzt.
Resultierende Veränderungen der Hebel-, wie Kraft-Last-Verhältnisse
bedingen zusätzlich eine entwicklungsphysiologische Einschränkung
der aktuellen sportlichen Belastbarkeit des Stütz- und Bewegungsapparates.
Aufgrund der Systemhaftigkeit und Komplexität des menschlichen Organismus
ist die Beurteilung der Haltung des Rumpfes
( Haltungsproblematik ) und die Feststellung evt. Normabweichungen von
Füßen, Händen und Achsenverhältnissen der Extremitäten
( z.B. Genua vara et valga ) angezeigt, da diese auch sekundär negativen
Einfluß auf gesunde Strukturen benachbarter Systeme, wie z.B. Gelenke,
Sehnen und Bänder haben können. Generell schließt eine
Diagnostik zur sportlichen Belastbarkeit des Bewegungsapparates eine Einschätzung
von allgemeiner und ggf. spezieller Mobilität und eine Bestimmung
des Muskelstatus sowie der Dehnfähigkeit ( z.B. nach Janda
) mit ein. Eine genauere Beurteilung von Materialeigenschaften setzt spezielle
diagnostische Verfahren, wie Röntgenuntersuchungen, Sonographie, Computertomographie
u.a. voraus.
4.1.6 Sportmethodische Schlußfolgerungen
zur Belastbarkeit des Bewegungsapparates
im Kindes-
und Jugendalter
Aus den Besonderheiten zur Belastbarkeit des Stütz- und Bewegungsapparates
im Kindes- und Jugendalter lassen sich einige wesentliche Schlußfolgerungen
für die Gestaltung des Schul- und Freizeitsports ziehen.
1) Die Heterogenität der Zielgruppe, sowohl entwicklungsphysiologisch als auch in Hinblick auf die persönliche sportliche Leistungsfähigkeit, macht eine frühzeitige und individuelle Differenzierung der Belastungsgestaltung notwendig.
2) Die aktuelle Leistungsfähigkeit und damit die aktuelle Belastbarkeit,
hier speziell des Stütz- und Bewegungsapparates, ist limitierendes
Maß für die Belastungsgestaltung. Die allgemeine Belastbarkeit
( Gesundheit ) ist als generelle Voraussetzung für alle weiteren Belastungsformen
zu überprüfen. Die Sicherung und Verbesserung einer allgemeinen
und vor allem mechanischen Belastbarkeit hat Priorität vor allen anderen
Intentionen des Schul- und Freizeitsports. Für den Schulsport sollte
generell ein Maßstab des goldenen Mittels genügen. Übungen,
die zu extremen Gelenk- bzw. Wirbelsäulenbelastungen führen (
z.B. Tiefkniebeuge mit Lastbeauflagung ), sind weitestgehend zu unterlassen
!
3) Eine funktionelle Beanspruchung und damit eine gezielte Be- und Entlastung der Gelenke ist als strukturerhaltender Reiz notwendig und fördert eine optimale Gelenktrophik durch genügende Durchsaftung des Gelenkinnenraumes ( sog. physiologisches Durchbewegen ). Man spricht im allgemeinen von einer ökonomischen Beanspruchung des Binde- und Stützgewebes ( Schmidt, H. ).
4) Eine generelle Durchsetzung von Trainingsprinzipien, vor allem des
Prinzips der kontinuierlichen Belastungssteigerung, muß für
den kindlichen und jugendlichen Organismus abgelehnt werden, weil die Belastbarkeit
der reifenden Systeme während bestimmter entwicklungsphysiologischer
Phasen vermindert ist und deshalb eine aktuelle Anpassung der Trainingsbelastung
an die momentane Leistungsfähigkeit erforderlich macht
( vgl. Belastbarkeit des reifenden Knochens in der Pubertät ).
5) Ausreichende Pausen sichern ! Aufgrund des physiologisch erhöhten energetischen Grundumsatzes des Kindes bzw. des Jugendlichen sind längere Regenerationszeiträume notwendig.
6) Einer sportlichen Belastung hat prinzipiell eine allgemeine und spezielle Erwärmung voranzugehen. Auf eine gezielte Vorbereitung von disziplinspezifisch hauptsächlich geforderten Muskelgruppen und Gelenken ist zu achten.
7) Die Übungsauswahl erfolgt unter dem Gesichtspunkt der Funktionalität und eines altersgerechten Anforderungsniveaus. Eine funktionelle Beanspruchung der Gelenke fördert als strukturerhaltender Reiz eine optimale Gelenktrophik. Nach großen Gelenkbelastungen sollte eine Ausgleichsgymnastik zur Gelenkentlastung folgen ( Gelenkextension und physiologisches Durchbewegen ).
8) Die gezielte Kräftigung der Skelettmuskulatur vollzieht sich in Einheit mit Dehnungs- und Beweglichkeitsübungen. Eine allseitig gut ausgeprägte Skelettmuskulatur sichert Gelenkstabilität und schützt vor Fehlbelastungen. Prinzipiell ist auf eine ausreichende Beweglichkeitsschulung im Kindes- und Jugendalter zu achten, da sich die Beweglichkeit nach Erreichen des 10. Lebensjahres bei fehlender Reizsetzung verschlechtern kann. Nach Belastungen sollte ein abschließendes Dehnen ( bevorzugt Stretching-Methode ) Kontrakturreste lösen und neuromuskulären Dysbalancen vorbeugen.
9) Zuerst eine " hohe " Qualität der Übungsausführung sichern ( Beherrschung von sportlichen Techniken mindestens in Grobform ) und dann belasten.
10) Eine ausreichende Konzentration und Aufmerksamkeit bei der Übungs-ausführung fordern und sichern ( vor allem im motorischen Lernprozeß ).
11) Bei Sprungübungen ist auf geeignete Aufsprungunterlagen ( z.B. Matten, Läufer, weicher Sand ) Wert zu legen und eine Anpassung der Sprungbelastung, vor allem bei Niedersprüngen, an Alter und Könnensstand der Kinder und Jugendlichen erforderlich.
12) Auf praktische Kleidung ( warme Gelenke ! ), geeignetes Schuhwerk ( z.B. Spezialschuhe ), evtl. notwendige Schutzkleidung ( Knie-, Schienbein-, Schulter-, Ellenbogengelenkschutz ), evtl. notwendige orthopädische Stütz- und Ausgleichsmittel ( Bandagen, Orthesen, ... ) und sicheres Sportgerät ( z.B. Alpinskibindung, Turngeräte, Tore ) ist zu achten.
13) Alle Übungen, die zu direkten Schmerzen führen oder schmerzhafte Reiz-zustände ( z.B. Gelenkerguß ) verursachen, sind zu unterlassen !
14) Reaktive ( plyometrische ) Übungsformen sollten im Schul- und Freizeitsport gemieden werden.
15) Anatomische Besonderheiten, wie normabweichende Fußformen, Achsen-fehlstellungen, Dysplasien und Stellungsfehler der Wirbelsäule, sind bei der Übungs- und Belastungsauswahl unbedingt zu beachten.
16) Die notwendige und einwandfreie Hilfeleistung ist zur Sportverletzungs-prävention
sicherzustellen. Im Falle von Sportverletzungen des aktiven und passiven
Bewegungsapparates sichern die Maßnahmen einer korrekten Ersten Hilfe
einen wesentlichen Anteil zur Vermeidung von Sport- bzw. Folgeschäden
( Belastungsabbruch, ausreichend kühlen, Ruhigstellung, bei Notwendigkeit
fachärztliche Behandlung sichern ! )
17) Den Kindern und Jugendlichen ist Wissen zur richtigen Übungsgestaltung
und -durchführung im Sportunterricht und Freizeitsport zu vermitteln.
Unter anderem ist auf mögliche Belastungseinschränkungen des
Stütz- und Bewegungsapparates während des Längenwachstums
oder aufgrund gesundheitlicher Beeinträchtigungen
( akute Krankheitszustände, präarthrotische Deformitäten
u.a. ) hinzuweisen.
Die Mehrzahl der o.g. Schwerpunkte haben ebenfalls für die Gestaltung des Freizeitsports als auch teilweise des Leistungssports im Erwachsenenalter ihre Gültigkeit.
4.1.7 Vorschlag für einen Erfassungsbogen
im Sportunterricht zur individuellen
Einschätzung
der aktuellen sportlichen Leistungsfähigkeit und Belastbarkeit
des
Schülers durch die Sportlehrkraft
Jede Sportlehrkraft, vor allem die im Schulsport tätige, steht
täglich vor der notwendigen und oft auch schwierigen Aufgabe der Differenzierung
und Individualisierung. Die aktuelle Einschätzung, oder auch die Kenntnis
der momentanen persönlichen sportlichen Leistungsfähigkeit und
Belastbarkeit, kann unter der Berücksichtigung der Zahl der zu betreuenden
Kinder und Jugendlichen zu Problemen führen. Deshalb erscheint es
günstig, in relativ konstanten Zeitabschnitten einfach meßbare
physische und anthropometrische Parameter und aktuell-konstitutionelle
Besonderheiten in einem Erfassungsbogen festzuhalten, um in der
Unterrichts- bzw. Trainingsvorbereitung bereits differenzierte Belastungsgestaltung
( Zielübung, Umfang, Intensität, Dauer, Stärke usw. ) planen
zu können. Eine solche einfache Erfassung kann Hinweise auf sog. sensitive
Phasen ( z.B. puberaler Wachstumsschub ) oder gesundheitliche Einschränkungen
geben. Somit besteht für die Sportlehrkraft die Möglichkeit,
Einfluß auf adäquate Übungsgestaltung zu nehmen und besondere
" Problemfälle " herauszufiltern. Die Datenaufnahme sollte im folgenden
Beispiel halbjährlich erfolgen. Dieser Zeitraum erscheint günstig,
da bei Eintritt des puberalen Wachstumsschubes eine signifikante Wachstumsgeschwindigkeitserhöhung
zu verzeichnen ist und Abweichungen von der physiologischen Norm ( z.B.
Akzelleration und Retardation ) symptomatisch erkennbar werden.
Desweiteren erscheint eine Kopplung an den Beginn eines Schulhalbjahres
organisatorisch günstig. Da es sich bei diesem Vorschlag um keine
exakten wissenschaftlich-empirischen Datenerfassungen handelt, sind die
" Erhebungen " als relativ zu betrachten und nur als Orientierungsgrundlage
und persönliches Hilfsmittel zu werten. Der Datenschutz muß
selbstverständlich gewährleistet werden. Um das eigentliche Charakteristikum
- die Bewegung - und die Effektivität des Sportunterrichts nicht zu
stören, kann die Erfassung der Daten übungsbegleitend und durchaus
über mehrere Unterrichtsstunden erfolgen. Eine Überprüfung
der Muskelfunktion und evtl. verkürzter Muskelgruppen ( z.B. Muskelfunktionstests
nach Janda ) setzt fachliche Kenntnis der Testdurchführung
voraus und erfordert einen höheren organisatorischen Aufwand. Deshalb
ist diese Rubrik nur ergänzend in den Erfassungsbogen aufgenommen
und muß nicht zwingend bearbeitet werden. Da eine Nutzung des folgenden
Erfassungsbogens von aktuellen Bedingungen im Sportunterricht ( z.B. Schülerzahlen,
Zeitfaktor, Anzahl der Sportstunden pro Woche,
etc. ) abhängig ist, soll an dieser Stelle darauf hingewiesen werden,
daß zumindest für Formen des Sportförderunterrichtes
eine solche Möglichkeit der Datenerfassung unbedingt zielgerichtet
genutzt werden sollte.
Datum: Klasse:
Name: Vorname:
Geschlecht: Alter (geb.):
Körperhöhe: ................. cm Körpergewicht: ................. kg
Konstitutionstyp: Athlet / Pykniker / Leptosom
Entwicklungsstatus: retardiert / normal / akzelleriert
Teilnahme an regelmäßigem sportlichem Trainingsbetrieb ? ja / nein
Wenn ja, Häufigkeit: ....... TE / Woche
Sportart / -disziplin: .........................
Freizeitsportliche Betätigung ? ...................................................................
Schwimmer ? ja / nein Stufe: ....................................
__________________________________________________________________
Einschätzung der Körperhaltung: Norm / Schwäche / Formfehler / Schaden
Beschreibung der Auffälligkeit: ...............................................................
Auffällige oder bekannte Leistungseinschränkungen durch
orthopädische Besonderheiten oder Schäden
( z.B. durch Morbus Schlatter ) ? ja / nein
.........................................................................................................................
.........................................................................................................................
Auffällige oder bekannte manifeste physiologische Besonderheiten
oder Leistungseinschränkungen
( z.B. durch Diabetes mellitus ) ? ja / nein
.........................................................................................................................
.........................................................................................................................
Gab es im zurückliegenden halben Jahr schwere Erkrankungen ? ja
/ nein
.........................................................................................................................
Wurden im zurückliegenden halben Jahr OP's durchgeführt ? ja / nein
.........................................................................................................................
Hatte der Schüler im zurückliegenden halben Jahr schwerwiegende
Unfallschädigungen ?
( evtl. Sportunfälle ) ja / nein
.........................................................................................................................
Durch den Schüler persönlich empfundene Leistungseinschränkungen
?
( z.B. Schmerzen bei bestimmten Übungen, Schwindelanfälle, etc.
) ja / nein
.........................................................................................................................
__________________________________________________________________
Ausgewählte Muskelfunktionstests ( nach Janda ) - ergänzend
1) Rumpf-Flexion ( Beugung ) Stufe: 5 4 3 2 1
2) Rumpf-Extension ( Streckung ) Stufe: 5 4 3 2 1
3) Gesäßmuskulatur ( Hüftstrecker ) Stufe: 5 4 3 2 1
Tests zur Muskelverkürzung - ergänzend
1) Wadenmuskulatur normal / leicht verkürzt / verkürzt
2) Hüftbeuger normal / leicht verkürzt / verkürzt
3) Ischiokruralmuskulatur normal / leicht verkürzt / verkürzt
4) Adduktorengruppe ( Hüftgelenk ) normal / leicht verkürzt / verkürzt
5) Brustmuskulatur normal / leicht verkürzt / verkürzt
Einschätzung der allgemeinen Beweglichkeit: ......................................................
__________________________________________________________________
Auswertung: Differenz der Körperhöhe: ........... cm/ ... Monate
relative Wachstumsgeschwindigkeit: ............ cm/Jahr
Differenz des Körpergewichtes: ........... kg / ... Monate
Besonderheiten für die Unterrichtsplanung: ............................................................
4.2 Kriterien für die Einschätzung
der sportlichen Belastbarkeit
eines dysplastischen Hüftgelenks
im Kindes- und Jugendalter
in Bezug auf den Schul- und
Freizeitsport
Die Intention dieses Abschnittes ist es, in hypothetischer Weise ein
Modell zu einer relativ formalen Einschätzung der sportlichen Belastbarkeit
eines dysplastischen Hüftgelenks bei Kindern und Jugendlichen bezüglich
des Anforderungscharakters auf den Stütz- und Bewegungsapparat im
Schul- und Freizeitsport vorzuschlagen. Eine Einbeziehung der Leistungssportproblematik
soll hier nicht erfolgen, da diese eine absolut individuelle, sportdisziplinbezogene
und weitaus komplexere Beurteilung des Problems ( evtl. jahrelanges sportliches
Training ohne Kenntnis der Minderwertigkeit des Hüftgelenks, persönliche
Bedeutsamkeit des Sports, usw. ) erfordert. Das Modell stützt sich
auf die in den Kapiteln 2 und 3 dargelegten anatomischen
und damit auch biomechanischen Voraussetzungen und Gesetzmäßigkeiten
sowie auf die medizinischen Erkenntnisse zur Ätiologie und Pathophysiologie
der Hüftdysplasie. Es ist im Sinne eines für den Facharzt und
Sportpädagogen groben Orientierungsschemas angelegt, um bei
der natürlich notwendigen, konkret-individuellen Beurteilung der Hüftgelenkssituation,
die Einschätzung der Belastbarkeit in Bezug auf sportspezifische Anforderungsmerkmale
im Schul- und Freizeitsport zu differenzieren und ggf. zu vereinfachen.
Heck hat als Herausgeber im Auftrag des Deutschen Sportärztebundes
1988 in der Publikation Freistellungen im Schulsport eine deutliche
Position zur Problematik der Schulsportfreistellungen bezogen, in der er
schreibt: " So widerspricht die gegenwärtige Freistellungspraxis im
Schulsport dem aktuellen sportmedizinischen Kenntnisstand, nach dem selbst
im Verletzungs-, Krankheits- oder Behinderungsfalle ein größtmöglichstes
Maß an körperlicher Aktivität zu erhalten ist: Dadurch
soll nicht nur etwaigen Sekundärschäden, auch in psychischer
und sozialer Hinsicht, vorgebeugt werden; vielmehr zeigt die Erfahrung,
daß die Förderung vorhandener Restaktivitäten unmittelbar
einen positiven Einfluß auf den Verlauf verschiedener Gesundheitsstörungen
zunehmen vermag. " ( Deutscher Sportärztebund, /23/, S. 35
) Leider verrät ein Blick in die heutige Schulsportpraxis, daß
keine wesentlichen positiven Veränderungen im Sinne einer differenzierteren
und weniger großzügigen ( teilweise sogar gefälligen -
meist durch den gut bekannten Hausarzt ) Freistellungsattestierung zu verzeichnen
sind. Auf eine Darlegung der rechtlichen Festlegungen zum Problem der Schulsportbefreiung
soll hier verzichtet werden. Diese kann in den in den Rahmenrichtlinien
für die Leibeserziehung an den Schulen der Bundesrepublik Deutschland,
Beschluß vom 03.11.1966 und den entsprechenden Länderverordnungen
nachgelesen werden ( vgl. auch Kap. 6 ). Vielmehr geht es im folgenden
darum, für die medizinische Diagnose Hüftdysplasie ( in
4 Graden ), die eine objektive Einschränkung und Herabsetzung der
sportlichen Belastbarkeit darstellt, zu untersuchen, ob und in welchem
Maße sportliche Betätigung möglich ist. Es wird naturgemäß
nicht möglich sein, absolute Aussagen und Festlegungen zu treffen.
Dies verbietet schon die Komplexität des menschlichen Organismus allgemein
und seiner Systeme wie Subsysteme im speziellen. Der Schulsportunterricht
wie auch der Freizeitsport sind wesentliche Bestandteile einer allseitigen
körperlichen und psychischen Entwicklung der Kinder und Jugendlichen.
Motorische Kompetenz, körperliche und kognitive Leistungsfähigkeit
sind zur Bewältigung von Alltagsaufgaben Grundvoraussetzungen. Deshalb
ist es notwendig, den Kindern und Jugendlichen zu ermöglichen, sich
allseitige Handlungskompetenzen anzueignen und über eine gute physiologische
Leistungsfähigkeit zu verfügen. Die Entscheidung über eine
mögliche, wenn auch nur teilweise, sportliche Belastung sollte immer
unter Berücksichtigung der Gesamtperspektive erfolgen. Eine Sportfreistellung
kann eine komfortable Legitimation für das persönliche Bewegungsdefizit
und damit zivilisatorischer Mangel-Lebensweise darstellen. Die Genese
zum Risikopatienten der sog. Zivilisationskrankheiten kann bereits
im Kindes- und Jugendalter determiniert sein - ein weiterer Grund, Freistellungen
im Schulsport auf ein medizinisch indikatives Minimum zu beschränken.
Der Schulsport garantiert durch belastungslimitierende Rahmenbedingungen,
wie Unterrichtszeit, Schülerzahlen und Verteilung der Unterrichtsstunden,
ein ausreichendes Verhältnis von Belastung und Regeneration für
alle physiologischen Systeme, also auch für die Binde- und Stützgewebs-strukturen.
Man geht davon aus, daß die tatsächliche Belastungszeit meist
nur ein Drittel und weniger der Unterrichtsstunde ausmacht. Deshalb ist
ein vollständiges Schulsportverbot in den seltensten Fällen notwendig.
Meist wird in der Grundschule, bis auf besonders schwere Fälle, generell
von Schulsportfreistellungen Abstand genommen, da in den Klassen 1 bis
4 der Sportunterricht keine speziellen Maximalleistungen fordert und er
für die Entwicklung der motorischen Grundfertigkeiten des Kindes eine
wesentliche Rolle spielt. Weiterhin ist bekannt: "Der Gelenkknorpel des
Kindes ist noch regenerationsfähig und gegen Verletzungen durch seine
Mikrostruktur wenig anfällig. Die Knorpelbelastung ist durch das geringe
Körpergewicht gegenüber dem Erwachsenen kleiner. Die Kompensationsmechanismen
( Stoffwechselvorgänge ) sind in der Lage, nach leichter Überbeanspruchung
wieder normale Verhältnisse zu schaffen." (Stohr, A., /109/,
S.89) Im Schulsport erfolgt eine vielseitige motorische Grundausbildung
sowie die Einführung unterschiedlicher Sportarten. Damit sind spezielle
und monotone Belastungsformen, wie sie im leistungsorientierten Training
zu finden sind, ausgeschlossen. Der Schulsport ist mit seinen quantitativen
Merkmalen mit dem Freizeitsport vergleichbar. Durch den Mangel an planmäßiger
spezieller koordinativer, vor allem aber konditioneller Vorbereitung im
Schulsport treten bei Lernzielkontrollen sog. punktuelle Belastungsspitzen
auf, die für Schüler mit eingeschränkter sportlicher Belastbarkeit
auszuschließen sind. Eine differenzierte Gestaltung der koordinativen
und konditionellen Leistungsanforderungen läßt durchaus zu,
daß Schüler mit Teilsportbefreiungen aktiv am Unterricht teilnehmen
können. Hier ist auch auf die psychische Komponente hinzuweisen, daß
vor allem dauerhaft eingeschränkte körperliche Belastbarkeit
zu Minderwertigkeitsgefühlen und Problemen in der sozialen Anerkennung
führen kann. Eine Ausbildung der allgemeinen Gewandheit mit
Reaktions- und Gleichgewichtsfähigkeit, zeitlicher und räumlicher
Orientierungsfähigkeit, Rhythmusfähigkeit, Differenzierungsfähigkeit,
Kopplungs- und Umstellungsfähigkeit ist unter Berücksichtigung
der gegebenen Kontraindikationen möglich. Die Schulung von Kraft (
Kraftausdauer ) und Beweglichkeit ( Dehnfähigkeit - aber keine Partnerübungen
einsetzen ) ist in den meisten Fällen durchführbar und im orthopädischen
Sinne ( Schulung des aktiven und passiven Stütz- und Bewegungsapparates
) sehr erwünscht. Gerade bei sog. präarthrotischen Deformitäten,
wie sie eine Hüftdysplasie darstellt, ist die Kräftigung der
Muskulatur des betroffenen Gelenks notwendig, um die verschlechterte Gelenkmechanik
zu kompensieren. Für die gezielte Beübung präarthrotischer
Gelenkzustände, im Sinne der funktionellen muskulären Kräftigung
bzw. des physiologischen Durchbewegens zum Funktionserhalt und zur Prävention
von Arthroseprozessen, sind zusätzlich im Sportförderunterricht
Angebote zu unterbreiten. Dazu erfolgen gesonderte Ausführungen im
Kapitel 5. Um eine differenzierte Unterrichtsteilnahme von teilbefreiten
Schülern so effektiv und einschränkungsadäquat wie nur möglich
zu machen, ist eine enge Zusammenarbeit von Lehrer, Schüler, Eltern
und dem behandelnden Facharzt sehr zu empfehlen. Leider existiert momentan
immer noch keine rechtliche Grundlage, die zu dieser Kooperation verpflichtet.
Zur orthopädischen Beratung im Schul- und Breitensport führen
Rompe, G. und Rieder, H. ( in Hüllemann, K.-D.,
/51/, S. 168 ) aus: " Sofern Breitensport - vor allem Schulsport - emotional
bedingte Überforderungen des einzelnen vermeidet und als Steigerung
der individuellen körperlichen Leistungsfähigkeit durch planmäßiges
Training verstanden wird, sind Freistellungen von diesem Sport aus
orthopädischer Sicht nur in besonderen Fällen erforderlich, nämlich
wegen:
1. Systemerkrankungen
Z.B. erhebliche Knochenbruchgefährdung ( Osteogenesis imperfecta ); Neigungen zu posttraumatischen Verknöcherungen ( Myositis ossificans congenita ); Gefahr von Knochendeformierungen bei Störungen der Knochenstabilität ( Vitamin-D-resistende Rachitis );
2. Beeinträchtigung der muskulären Leistungsfähigkeit
Z.B. ausgedehnte schlaffe Lähmungen, Muskelatrophie und Muskeldystrophie; fast alle spastischen Lähmungen;
3. Gelenkinkongruenzen
Z.B. anlagebedingte Entwicklungsstörungen ( enchondrale Dysostosen; nicht ausgeheilte Hüftdysplasie ); präarthrotische Gelenkdeformitäten ( Coxa vara epiphysera, Osteochondrose des Hüftkopfes - Morbus Perthes ); Verletzungsfolgen ( Epiphysenschädigung; Luxationsfraktur; ins Gelenk reichende Frakturen, Gelenkfehlstellungen nach Achsenfehlern von mehr als 10 Grad ). "
Die folgenden Ausführungen werden demzufolge neben dem Phänomen der sportlichen Belastbarkeit eines minderwertigen Hüftgelenks auch eine Aussage zu Freistellungsnotwendigkeiten enthalten müssen.
4.2.1 Einteilung in Belastbarkeitsgruppen
In Anlehnung der von Lindemann (1950) vorgeschlagenen Einteilung
der Endergebnisse der Behandlung der angeborenen Hüftverrenkung (
vgl. 3.4.2.1 ) und den vom Arbeitskreis für Hüftdysplasie
erarbeiteten Abweichungsstufen vom Normalen ( vgl. 3.4.2.2 ) sollen
im folgenden Belastbarkeitsgruppen aufgestellt werden, welche einer
relativ leichten Orientierung für die Empfehlung von möglichen
sportlichen Übungen und für den Ausschluß gefährdender
Übungen dienen sollen. Die Übergänge sind fließend
und bedürfen deshalb immer einer individuellen Abwägung. Die
Einordnung in eine Belastbarkeitsgruppe soll durch die Einschätzung
mittels dreier Rubriken erfolgen.
1) Klinische Einschätzung
a) subjektives Beschwerdebild des Patienten, vor allem Schmerzhaftigkeit:
in Ruhe / bei Belastung / bei speziellen Belastungen
b) aktive und passive Beweglichkeit
c) Muskelstatus und -balance
d) Gangbild ( z.B. Trendelenburg-Zeichen )
2) Einschätzung durch bildgebende Verfahren ( Röntgendiagnostik / Sonographie )
a) Relation Hüftkopf - Hüftpfanne ( evtl. Subluxation )
b) Relation Hüftkopf - Schenkelhals : CCD-Winkel und Antetorsion
c) Einschätzung der Pfanne ( Tiefe, Neigungswinkel, etc. )
d) Gesamturteil der Gelenksituation
3) Faktoren, die die allgemeine Funktionalität des Hüftgelenks beeinflussen
a) angrenzender bzw. beeinflussender passiver und aktiver Bewegungsapparat
(z.B. Beckenkippung bzw -verdrehung, Skoliose, neuromuskuläre
Dysbalancen, etc. )
b) konstitutionelle Anmerkungen ( Konstitutionstyp, evtl. Übergewicht, etc. )
Unter dem Gesichtspunkt der sportlichen Belastbarkeit eines dysplastischen Hüftgelenks, die natürlich höhere Ansprüche an das Gelenk stellt als gewöhnliche Alltagsbelastungen, schlage ich nun im weiteren fünf Belastbarkeitsgruppen vor.
Die Einordnung in eine der fünf Belastbarkeitsgruppen erfolgt zwingend, wenn folgende Kriterien entsprechend der tabellarischen Ausweisung zutreffend sind:
1) Klinische Einschätzung
- Muskelstatus und -balance
- Gangbild
2) Einschätzung durch bildgebende Verfahren
- Relation Hüftkopf - Hüftpfanne
- Einschätzung der Pfanne
- Gesamturteil der Gelenksituation
Alle weiteren Kriterien sind zur Gesamtbewertung ergänzend heranzuziehen.
( Die Tabellen sollen als exemplarische Verdeutlichung dienen und sind deshalb nicht als Absolutmaßstab anzusehen.)
Belastbarkeitsgruppe I
- funktionell vollwertige Ausheilung der congenitalen Entwicklungsstörung
( Dysplasie ) des Hüftgelenks
|
|
|
a) keine subjektiven Beschwerden b) aktive und passive Beweglichkeit : nach Norm c) Muskelstatus u. -balance: gut d) Gangbild : unauffällig |
a) Pfanne umfaßt Hüftkopf zu mindestens 2/3, insgesamt gute Artikulation der Gelenkflächen b) entspricht der Norm
|
a) keine Beeinträchtigung
b) keine konstitutionellen Besonderheiten |
Belastbarkeitsgruppe II
- guter funktioneller, ( schulsportlich ) belastbarer Zustand bei
leichter Restdysplasie
|
|
|
a) keine subjektiven Beschwerden b) aktive und passive
c) Muskelstatus u. -balance:
d) Gangbild: unauffällig |
a) Pfanne umfaßt Hüftkopf zu mindestens 2/3 b) normgerecht bis
c) leichte Restdysplasie mit
d) relativ guter, moderat
|
a) keine bis geringe
Beeinträchtigung b) meist keine |
Belastbarkeitsgruppe III
- belastungslimitierende Restdysplasie ohne Subluxationsanzeichen
|
|
|
a) im Kindes- und Jugendalter kaum subjektives Beschwerdebild b) aktive und passive
c) Muskelstatus u. -balance:
d) Gangbild: mögliche
|
a) Pfanne umfaßt Hüftkopf
zu weniger als 2/3, aber mindestens zur Hälfte b) mögliche Deformitäten
c) relativ flache d) funktionelle Belastbarkeit
|
a) oft zusätzliche Einschränkungen b) Besonderheiten unbedingt
|
Belastbarkeitsgruppe IV
- eindeutige Belastbarkeitseinschränkung des Hüftgelenks durch Subluxation
|
|
|
a) möglicher Belastungsschmerz b) deutliche Einschränkung
c) Muskelstatus u. -balance:
d) Gangbild: auffällig
|
a) Pfanne umfaßt Hüftkopf
meist weniger als zur Hälfte
b) Deformitäten c) flache, meist steile Pfanne d) Subluxationsstellung des
|
a) oft zusätzliche Einschränkungen b) Besonderheiten unbedingt
|
Belastbarkeitsgruppe V
- stark dysplastisches Hüftgelenk mit Reluxationstendenz
|
|
|
a) subjektives Beschwerdebild ausgeprägt b) deutliche Beweglichkeits-
c) pathologischer d) Gangbild klar pathologisch |
a) Subluxations- oder Luxationsstellung des Hüftkopfes b) Deformitäten c) Pfanne stark dysplastisch
d) Belastbarkeit deutlich |
a) Einschränkungen vorhanden b) Besonderheiten zusätzlich
|
Die Gruppen III, IV und V sind als eindeutige präarthrotische Deformitäten einzuordnen.
4.2.1.1 Allgemeine Einschätzung der sportlichen Belastbarkeit nach denfünf Belastbarkeitsgruppen
Zunächst lassen sich allgemeine Feststellungen zur schulsportlichen
Belastbarkeit der o.g. fünf Belastbarkeitsgruppen aufstellen, die
eine grobe Einordnung und damit die notwendige Differenzierung für
die Sportlehrkraft ermöglichen. Nach wie vor orientieren wir uns am
Anforderungsprofil des Schulsports, das im wesentlichen auch dem Freizeitsport
zuzuordnen ist. Über den Belastungscharakter im Sportunterricht sind
bereits oben grundlegende Bemerkungen gemacht worden.
" Im Schulalter ist die Dysplasiehüfte meist vollständig oder weitestgehend durch adäquate Frühbehandlung in Heilung übergegangen, so daß meist sportliche Aktivität ohne Einschränkung gestattet werden kann. "
( Deutscher Sportärztebund, /23/, S. 77 )
Für die Belastbarkeitsgruppen I und II gelten keinerlei Einschränkungen. Sie sind im Schul- und Freizeitsport voll belastbar. Eine besondere Rücksichtnahme ist in den seltensten Fällen erforderlich.
Die Belastbarkeitsgruppe III erfordert hingegen eine Differenzierung und Modifizierung der sportlichen Belastung. Aufgrund der anatomischen Normabweichungen sind die biomechanischen Bedingungen des Gelenks ungünstig. Die Hüftkopfüberdachung ist meist zu gering und bedingt eine Belastungsverlagerung auf den Pfannenrand. Die Krafteinwirkung je cm² Knorpelfläche nimmt entsprechend zu. Die artikulierende Gelenkfläche der Pfanne ist auf ein schmales Randknorpelband reduziert, das die gesamte Belastung ertragen muß. Dadurch besteht eine erhöhte Gefahr der Knorpelschädigung und damit eine mögliche Entwicklung einer Coxarthrose. Da bei Gruppe III noch keine Subluxationsstellung des Femurkopfes zu diagnostizieren ist, sollte man von einer grundsätzlichen Befreiung von Übungen mit Belastungsspitzen ( z.B. Sprint ) und demzufolge auch Sprüngen absehen. Allerdings erscheint es notwendig, Extrembelastungen auszuschließen. Somit sollten alle hohen Abgänge von Geräten, Übungen mit extremer Beinspreizung ( z.B. Grätschristsprung, Brustschwimmen ), Übungen mit direkter traumatischer Einwirkung auf das Hüftgelenk ( z.B. Judo: Fallübung seitwärts ) und Langzeitlaufbelastungen über 30 min gemieden werden. Der aktuelle Leistungsstand des Schülers ist ein Kriterium für die Entscheidung über Teilnahme oder Nichtteilnahme an den betreffenden kritischen Übungen.
Für die Belastbarkeitsgruppe IV sind aufgrund der Subluxationsstellung des Hüftkopfes grundsätzliche Teilbefreiungen unumgänglich, um Schüler vor Folgeschäden zu bewahren. Schüler, die wir der Belastbarkeitsgruppe IV zuordnen, sollten auf Dauer von allen Antritts- und Sprungübungen ( Sprint, Sprung in LA und Gerätturnen, usw. ) befreit werden. Zusätzlich sind Übungen mit extremer Beinspreizung, Übungen mit direkter traumatischer Einwirkung auf das Hüftgelenk und Langzeitlaufbelastungen über 15 min auszuschließen.
Für die Belastbarkeitsgruppen III und IV sind Schwimmen ( Wechselschlagtechniken ), Radfahren, moderates Wandern ( kein Leistungs- oder Bergwandern ! ), leichter Skilanglauf und funktionelle Gymnastik mit Muskelkräftigung und Dehnung besonders zu empfehlen.
Belastbarkeitsgruppe V: " Eine komplette Hüftgelenksluxation ist glücklicherweise eine absolute Seltenheit geworden, diese Kinder sollten im Schulsport nur am Schwimmunterricht teilnehmen. Hier ist jedoch leistungsbezogenens Training durchaus möglich. " ( Deutscher Sportärztebund, /23/, S. 77 ) In diesem Fall sollte am besten in einem Elterngespräch und mit fachärztlicher Beratung die Möglichkeiten zur Teilnahme am Sportunterricht abgewogen werden.
Es sei an dieser Stelle nochmals darauf hingewiesen, daß Freistellungen
vom Schulsport in den Primarklassenstufen
( Klasse 1 - 4 ) nur in absolut notwendigen Fällen erteilt werden
sollten. Dies würde bei unseren Betrachtungen auf die Belastbarkeitsgruppe
V und den Übergang von IV zu V zutreffen.
4.2.1.2 Einschätzung der sportlichen Belastbarkeit für dynamische Belastungen
Eine dynamische Belastung bzw. Arbeitsweise ist durch
eine permanente zeitliche Änderung von Muskelspannung und -länge
( hauptsächlich auxotonische Kontraktionsform ) und damit durch zurückgelegte
" Wegabschnitte " gekennzeichnet. Dynamische Belastungen werden vom menschlichen
Bewegungsapparat wesentlich besser toleriert als statische Krafteinwirkungen.
Diese Tatsache begründet sich auf biomechanische Gesetzmäßigkeiten.
Die Zeit der Krafteinwirkung auf die binde- und stützgewebige Struktur
ist je nach Bewegungsgeschwindigkeit relativ kurz. Die artikulierenden
Unterstützungsflächen und entstehenden Kraftmomente ändern
sich pro Zeiteinheit und Kraftprojektion diskontinuierlich. Der Bewegungsapparat
wird physiologisch ( Grenzbelastungen ausgeschlossen ) beansprucht. Ein
knorpelvernichtender Dauerdruck kommt nicht zustande, knorpelzerstörende,
extreme, muskulär ungebremste Belastungsspitzen sind zumindest für
den Schul- und Freizeitsport sehr selten. Demnach sind den dynamischen
Formen sportlicher Belastung prinzipiell Vorrang zu geben. Sie ermöglichen
auch dem vorgeschädigten bzw. geschädigten Bewegungsapparat noch
eine relativ große Breite an sportlicher Mobilität bei meist
günstiger Auswirkung auf die aktuelle Pathogenese ( physiologisches
Durchbewegen der Gelenke, Muskelstatus ). Bei bestehender Belastungseinschränkung
müssen die Belastungsparameter auf die aktuelle Leistungsfähigkeit
des schwächsten funktionellen Systems, in unserem Falle des Bewegungsapparates
- speziell des Hüftgelenks, angepaßt werden. Für die differenzierte
Festlegung der Belastungsgrößen erscheint für das Hüftgelenk
die Einteilung dynamischer Belastungen in zwei Hauptkategorien vorteilhaft,
nämlich in Kategorie A - dynamische Belastungen mit beachtenswerten
quasistatischen Phasen ( z.B. Laufen, Skilanglauf, Ski-Alpin, Rudern,
Aerobic etc. ) und in Kategorie B - dynamische Belastungen mit vernachlässigbaren
quasistatischen Phasen ( z.B. Schwimmen, Radfahren, etc. ). Es ist
sogar notwendig, Kategorie A feiner zu unterteilen, da je nach Konstitutionstyp
und disziplinspezifischem sportlichen Anforderungsprofil die Größe
und Zeitdauer der quasistatischen Phase und damit die Größe
und Zeitdauer der resultierenden Kraft im Ausmaß signifikant schwanken
können. So bestehen zum Beispiel Unterschiede zwischen Kraftspitzen
beim moderaten Ausdauerlauf und Sprint, zwischen Anfänger- und Leistungsaerobic
oder gar intensiver Step-Aerobic ( " Treppensteigen ! " ). Demzufolge unterteilen
wir partiell in Kategorie A I - dynamische Belastung mit beachtenswerter
quasistatischer Phase durch große ( bis maximale ) Belastungsspitzen
( z.B. Sprint, Sprungbewegungen, Sportspiel, etc. ), in Kategorie A
II - durch mittlere Belastungsspitzen und Kategorie A
III - durch geringe Belastungsspitzen. Sportarten der Kategorie
B sind bei schweren Belastungseinschränkungen des Bewegungsapparates
zu bevorzugen. In Bezug auf die o.g. fünf Belastbarkeitsgruppen lassen
sich folgende allgemeine Zuordnungen treffen:
Belastbarkeitsgruppe I - ohne Einschränkungen belastbar;
Belastbarkeitsgruppe II - für den Schul- und Freizeitsport
im allgemeinen ohne Einschränkungen belastbar
( teilweise individuelle Differenzierung notwendig );
Belastbarkeitsgruppe III - A I und teilweise A II kontraindiziert, A III und B empfohlen;
Belastbarkeitsgruppe IV - A I und A II kontraindiziert, A III im speziellen möglich, B empfohlen;
Belastbarkeitsgruppe V - nur B nach individueller Einschätzung ( meist nur Schwimmen in Wechselschlagtechniken, leichte Gymnastik )
4.2.1.3 Einschätzung der sportlichen Belastbarkeit für statische Belastungen
Statische Belastungen können wir in aktive ( z.B.
Hantelarbeit, Stemmbewegungen, Haltearbeit, etc. ) und passive statische
Belastungen ( z.B. Schwerkraft, Körpergewicht ) unterscheiden. Statische
Belastung bzw. muskuläre Arbeitsweise ist durch eine relativ große
Kraftentwicklung bei keinen bis minimal zurückgelegten Wegabschnitten
charakterisiert. Die passiven Formen statischer Belastung sind relativ
konstant und nicht in jedem Fall beeinflußbar. Für das dysplastische
Hüftgelenk stellt das persönliche Körpergewicht die entscheidende
steuerbare Größe der statischen Gelenkbelastung dar, da durch
ein relativ geringes Körpergewicht das auf den Hüftgelenken ruhende
und zu komprimierende Partialgewicht G5 bzw. G4 reduziert werden kann.
Die Kontrolle des persönlichen Körpergewichts stellt somit für
einen Patienten mit dysplastischem Hüftgelenk eine wichtige Steuergröße
der individuellen Gelenkbelastung dar. Aus statischer Muskelarbeit resultiert
ein Dauerdruck auf die betroffenen Gelenkflächen, die arbeitende Muskulatur
ermüdet relativ schnell und kann dadurch ihre Stütz- und Schutzfunktion
für den passiven Bewegungsapparat nicht mehr vollständig erhalten.
Bei großen Drücken auf die artikulierenden Gelenkflächen
kann es zum sog. Abriß des Synoviaschmierfilmes kommen und damit
zur expliziten Gefahr der Knorpelschädigung. Bei einem dysplastischen
Gelenk sind die Bedingungen für eine optimale Kraftverteilung nicht
gegeben und je nach Deformität einzelner Gelenkabschnitte sind sie
permanenten Mehr- bis Überbelastungen ausgesetzt. Deshalb stellen
statische Belastungsformen für ein dysplastisches Gelenk und gerade
für das sehr großen Kräften ausgesetzte Hüftgelenk
eine ständige Gefahr dar. Sie sollten deshalb nach Möglichkeit
gemieden und ausgeschlossen werden, oder zumindest, wo nicht zu umgehen,
minimiert werden. Besonders relevant ist dieser Sachverhalt für die
Belastbarkeitsgruppen III, IV und V. Während wir bei Gruppe III hauptsächlich
langanhaltende und große statische Belastungen des dysplastischen
Hüftgelenks ( z.B. kräftige Abduktionshaltung - Grätschstand
am Boden ) ausschließen wollen, müssen wir bei Gruppe IV und
V durch die manifeste Luxationsgefahr des dysplastischen Hüftgelenks
jegliche Art zusätzlicher statischer Belastung ( vor allem Spreizbewegungen
und große Bewegungswiderstände ) ausschließen.
4.2.2 Evaluation der Schulsportanforderungen für die fünf Belastbarkeitsgruppen
4.2.2.1 Evaluation der Schulsportanforderungen im Primarbereich
( Klasse 1 - 4 )
Allgemein sollten für den Primarbereich folgende vier grundsätzliche
Leitsätze Beachtung finden:
1) Alle Kinder sollten am Schulsport teilnehmen. Nur in extremen Fällen
ist
eine Freistellung vom Schulsport angezeigt.
2) Kinder mit präarthrotischen Deformitäten sollten dem Sportlehrer
bekannt
sein. Er steuert ihre Belastung bewußt und bremst zu großen
Ehrgeiz.
3) Kinder mit präarthrotischen Deformitäten werden von hohen
Sprungbelastungen befreit und lösen dafür eine " Ersatzaufgabe
".
4) Kinder mit starker Leistungsbegrenzung sollten von der Zensierung
befreit
werden.
( vgl. Stohr, /109/,S.90 )
Der Primarbereich ist für die motorische Grundschulung durch die gezielte Entwicklung koordinativer und konditioneller Fähigkeiten sowie sportlicher Grundfertigkeiten bei entwicklungsphysiologisch günstigen Bedingungen für die Gesamtentwicklung des Kindes von entscheidender Bedeutung. Die Erlangung grundlegender intra- und extrasportiver Handlungskompetenzen trägt physiologisch und pädagogisch-psychologisch wesentliche Entwicklungspotenzen. Deshalb sollte jede Befreiung bzw. jedes Verbot von sportlichen Übungen im Primarbereich sehr genau geprüft werden. In diesem Sinne sind folgende Empfehlungen entstanden.
1. Leichtathletische Übungen:
- Für die Belastbarkeitsgruppe I und II ergeben sich keine Einschränkungen.
- Die Belastbarkeitsgruppe III sollte Sprungformen mit großen Krafteinsätzen und relativ großen Umfängen meiden - hier Wettkampfcharakter nach Möglichkeit ausschließen. Ausdauerbelastungen können absolviert werden.
- Für Schüler der Belastbarkeitsgruppe IV entfallen alle Antritts- und Sprungbelastungen; Vorsicht bei evtl. Stemmbewegungen; keine längeren Ausdauerbelastungen, keine Wettkampfsituationen.
- Die Belastbarkeitsgruppe V läßt lediglich Formen des Werfens und Fangens und evtl. leichte Belastungen des gesunden Hüftgelenks zu. Individuelle Differenzierung und Betreuung sind unbedingt erforderlich.
2. Spiele und Spielformen
Dieser Komplex ist im Primarbereich ein wesentlicher Bestandteil fast
jeder Sportstunde. Er hat für die Schüler große emotional-motivationale
Bedeutung. Eine absolute Befreiung vom Sportunterricht ist deshalb schon
aus psychologischen Gründen abzulehnen. Die Belastung für Schüler
mit Belastbarkeitseinschränkung
( hier Hüftdysplasie ) sollte nach Möglichkeit steuerbar
sein, was durch den zumeist wettbewerbsorientierten Charakter der Kleinen
Spiele oft sehr schwierig ist.
- Belastbarkeitsgruppe I und II : keine Einschränkungen;
- Belastbarkeitsgruppe III : bei Ausschluß von hohen Niedersprüngen und anderen extremen Hüftgelenksbelastungen Teilnahme möglich;
- Belastbarkeitsgruppe IV : eine Teilnahme am Spiel sollte durch Auswahl und Modifizierung der Spiele ermöglicht werden ( keine Sprünge, keine extremen Antritts- und Stoppbewegungen, keine Spreizbewegungen, etc. );
- Belastbarkeitsgruppe V : in diesem Fall ist das Reluxationsrisiko zu groß - deshalb muß auf Teilnahme verzichtet werden ( Verbot ).
3. Turnübungen
Eine Teilnahme ist möglich und erwünscht. Für die Belastbarkeitsgruppe
III muß der Schwerpunkt " Beidbeinig abspringen und >fliegen<
" belastungsdifferenziert werden, für Gruppe IV und V entfällt
der Schwerpunkt. Hüftgelenksbelastende Übungen ( z.B. Formen
der Kniehänge, Handstütz-Überschlag seitwärts ) müssen
für Gruppe III und IV modifiziert und variiert werden. Eine ordnungsgemäß
angepaßte Hilfeleistung ist für die betroffenen Schüler
sicherzustellen. Für die Schüler der Belastbarkeitsgruppe V ist
eine mögliche Teilnahme an den Übungen oder Übungsvarianten
in jedem Falle speziell zu überprüfen ( meist stark eingeschränkt
).
4. Gymnastisch-tänzerische Übungen
Bis auf die Belastbarkeitsgruppe V ist die Teilnahme möglich und
erwünscht. Eine Differenzierung und Variation der Übungsformen
für Gruppe III und IV ist nötig und erfolgt nach den Richtlininen
wie in " Turnübungen ".
5. Schwimmen
Die Teilnahme wird generell für alle Belastbarkeitsgruppen empfohlen.
Es kann hier auch leistungsbezogen geübt werden. Eine Ausnahme bilden
für die Belastbarkeitsgruppen III, IV, V die Gleichschlagbewegungen
der Beine
( schnelle Beinschwinge im Brustschwimmen - kräftige Abduktion nötig
) und Delphinbewegungen ( schnelles Überstrecken der Hüfte ),
für die Gruppen IV und V Startsprünge und schnelle Wenden.
6. Wintersportliche Übungen
Alle Belastungen des Pflugfahrens ( Brems- und Gleitpflug, Pflugbogen,
Pflugbogenslalom ) sind für das dysplastische Hüftgelenk nicht
angezeigt ( Druck auf das Hüftgelenk durch statische Abduktionshaltung
).
Deshalb ist die Schulung für die Belastbarkeitsgruppe III nur kurz
und ohne großen Krafteinsatz
( mittelsteile, leichte Abfahrt ) zur Bewegungs- und Technikschulung
einzusetzen und im folgenden Üben zu unterlassen. Gruppe IV ist vom
gezielten Abfahren ( Ski-Alpin ) freizustellen. Skilanglaufbelastungen
( Diagonalschritt ) sind für das dysplastische Hüftgelenk relativ
günstig und können bei moderater Gestaltung auch von Gruppe IV
bewältigt werden ( Gruppe III und IV : keine zu langen Strecken -
ca.10 bis 20 min, möglichst Strecken ohne steile und schwierige Abfahrten
). Schüler mit stark dysplastischem Hüftgelenk mit Reluxationstendenz
( Belastbarkeitsgruppe V ) sollten nicht am aktiven Skilauf teilnehmen.
4.2.2.2 Evaluation der Schulsportanforderungen im Sekundarbereich
( Klassen 5-13 )
Im folgenden sollen die für das Hüftgelenk kritischen Übungen
und Übungsformen tabellarisch grob bewertet werden. Wie oben bereits
hingewiesen, sind die Übergänge fließend und oft nicht
absolut zu setzen. Übungen, die evtl. nicht erfaßt sind, können
anhand ihrer Anforderungs- und Bewegungsstruktur ähnlichen Übungen
in den Tabellen zugeordnet und entsprechend evaluiert werden.
1) Gerätturnen
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2) Rhythmische Sportgymnastik / Tanz
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3) Gymnastik / Zweikampfübungen; Kampfsportübungen / Zweikampfübungen
Gymnastik ist unter den unter 2) o.g. Richtlinien durchzuführen.
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Ab Belastbarkeitsgruppe III entfallen alle Kampfhandlungen. Die Demonstration von Bodentechniken ohne Kampfcharakter und einfachen Techniken der Abwehrhandlungen ( z.B. Armbefreiung ) können von Schülern der Belastbarkeitsgruppen III und IV problemlos, von Schülern der Gruppe V teilweise absolviert werden.
4) Leichtathletik
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Die Leichtathletik stellt in Bezug auf die praktische Integration von Schülern mit Hüftdysplasien ein echtes Problemfeld dar, da in der Leichtathletik schnellkräftige Bewegungsabäufe und intensive Ausdauerbelastungen dominieren. Der Leistungscharakter ist deshalb für die betroffenen Schüler auszugrenzen. Eine Technikschulung ist in den meisten Fällen nicht zu empfehlen.
5) Orientierungslauf
Für den Orientierungslauf gelten im wesentlichen die Empfehlungen für den Ausdauerlauf in der Leichtathletik. Der Orientierungslauf kann bei günstigen Geländebedingungen ( z.B. weicher Waldboden ) für die Gelenke schonende Bedingungen bieten und sollte dementsprechend genutzt werden. Für die Belastbarkeitsgruppe IV und V wäre eine modifizierte Teilnahme mit dem Fahrrad eine für das dysplastische Hüftgelenk günstige Belastungsalternative.
6) Schwimmen
Die Teilnahme am Schwimmunterricht ist für alle Belastbarkeitsgruppen unbedingt zu empfehlen. Für die differenzierte Durchführung unter Beachtung der Belastbarkeitsgruppen gelten die Grundsätze für den Schwimmunterricht in der Primarstufe ohne Einschränkung auch für den Sekundarbereich und darüber hinaus.
7) Sportspiele: Kern- und Ergänzungsbereich
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4.2.3 Evaluation von ausgewählten Freizeitsportarten für die fünf Belastbarkeitsgruppen
Die Auswahl der zu bewertenden Freizeitsportarten orientiert sich an
den zur Zeit aktuellen Trends. Sportarten, die in ihrer Anforderungs- und
Bewegungsstruktur bereits in den Ausführungen zum Schulsport bearbeitet
wurden, bleiben hier unberücksichtigt.
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